TAG, 14.50 UHR

Sie hielten vor Bruhns' Villa. Wie in Schönberg auch hier eine Eibenhecke, doch diese schien noch undurchdringlicher. Mit einer Höhe von dreieinhalb Metern umrahmte sie das gesamte Grundstück, dazu kam ein breites, etwa vier Meter hohes massives Eisentor, durch das man nur schwer einen Blick auf das riesige Gelände werfen konnte. Ein leicht geschwungener Kiesweg führte zum Haus und den Garagen, ein Bild, wie man es sonst nur aus dem Fernsehen bei hochherrschaftlichen Anwesen kennt. Jetzt im ausklingenden Winter sah der parkähnliche Garten zwar an etlichen Stellen grün, aber nicht spektakulär aus, doch Lisa konnte sich den Anblick vorstellen, wenn die Büsche und Sträucher geschnitten waren, die Blumenpracht blühte und der Rasen in saftigem Grün stand. Das Haus war in einem hellen Gelb gestrichen, zwei Stockwerke, ein hohes Dach mit ein paar kleinen Fenstern zwischen den roten Ziegeln, eine überdimensionale Eingangstür aus schwerem, dunklem Holz. Allein der Unterhalt musste jährlich ein Vermögen verschlingen, mehr, als Henning und Santos sich von ihrem Gehalt jemals hätten leisten können. Es war mit Sicherheit eines der größten und teuersten Häuser im ohnehin teuersten Viertel der Stadt. »Das ist kein Haus, das ist eine Festung«, flüsterte Santos und drückte auf den grauen Knopf neben den Initialen P. B. und wartete. »Komisch, dass mir das noch nie aufgefallen ist, obwohl wir schon so oft in der Gegend zu tun hatten und ... Ich habe das Haus jedenfalls noch nie bewusst wahrgenommen.« Nach einer Weile klang eine klare weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. »Frau Bruhns?«, fragte Lisa.

»Ja? Mein Mann ist nicht da, ich weiß auch nicht, wann er wiederkommt.«

Lisa hielt ihren Ausweis vor die Kamera und fuhr fort: »Mein Name ist Santos von der Kripo Kiel, mein Kollege und ich müssten uns kurz mit Ihnen unterhalten. Dürfen wir reinkommen?«

»Einen Moment bitte, ich komme«, murmelte Victoria Bruhns, trat wenig später aus der Haustür und kam die etwa dreißig Meter zum Tor, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht doch um Journalisten oder aufdringliche Fans handelte, die sich wieder etwas Neues hatten einfallen lassen, um Bruhns kennenzulernen. Victoria Bruhns war klein, kaum eins sechzig und damit gut einen halben Kopf kleiner als ihr Mann, sie hatte schulterlange dunkelblonde Haare und braune Augen. Sie war sehr schlank und zierlich, und sie war, das wusste Lisa aus den Medien, erst vor kurzem fünfundzwanzig geworden und seit drei Jahren mit Bruhns verheiratet. Sie hatten eine gemeinsame Tochter von etwa einem Jahr. Victoria sei seine ganz große Liebe gewesen, die er für nichts in der Welt aufgegeben hätte, auch habe er seinen Lebenswandel geändert und sei endlich sesshaft geworden, hatte Bruhns erst kürzlich in einem TV-Interview vor einem Millionenpublikum erklärt. Doch das, was Henning und Santos in Schönberg vorgefunden hatten, sprach eine andere Sprache. Bruhns hatte sich nicht geändert, einer wie er würde sich niemals ändern, würde nie etwas für eine Frau aufgeben, auch wenn er betonte, sie noch so sehr zu lieben. Niemals hätte Bruhns irgendetwas für irgendjemanden aufgegeben, weder für die größte Liebe seines Lebens noch für den besten Freund, wobei Lisa beinahe sicher war, dass Bruhns keinen einzigen echten Freund hatte, viele sogenannte Freunde schon, die sich in seinem Ruhm sonnten, mehr aber auch nicht. Bruhns war ein Mann, der das Spiel der Freunde beherrschte, ein Spiel, in dem Freundschaft nur ein Wort war und Freunde ganz schnell zu erbitterten Feinden werden konnten.

»Sie sind tatsächlich von der Polizei?«, fragte Victoria Bruhns mit misstrauischem Blick durch das noch geschlossene Tor, doch ihre weiche, samtene Stimme klang nicht unfreundlich. Noch einmal hielt Santos ihren Ausweis hoch, Victoria warf einen langen Blick darauf und nickte. Sie schien nicht sonderlich besorgt zu sein, dass die Polizei vor dem Tor stand, was mehrere Gründe haben konnte, vielleicht hatte sie schon öfter mit der Polizei zu tun gehabt, wahrscheinlich sogar, wenn es stimmte, dass fast täglich aufdringliche Fans das Haus belagerten.

»Dürfen wir bitte reinkommen? Wir müssten etwas mit Ihnen besprechen.«

»Geht es um meinen Mann?« Als sie diese Frage stellte, war in ihrem Gesicht zum ersten Mal ein Hauch von Besorgnis, möglicherweise sogar Angst zu erkennen. »Lassen Sie uns im Haus darüber reden, hier draußen ist es doch recht frisch.«

»Entschuldigen Sie, natürlich.« Victoria Bruhns öffnete das Tor mit einem Knopfdruck und ging vor den Beamten zum Haus, während sich das Tor wie von Geisterhand hinter ihnen wieder schloss. Der weiße Kies knirschte unter ihren Schuhen. Sie traten sich die Füße am Eingang ab und betraten eine gewaltige Vorhalle, von der mehrere Türen abgingen und Treppen sich zu beiden Seiten in einem Halbrund in den ersten Stock erstreckten. Massive Holzgeländer, Marmorboden in der Eingangshalle, mehrere übermannshohe Pflanzen, ein Springbrunnen in der Mitte, umrahmt von goldenen Fliesen, eine Vorhalle wie in einem Göttertempel, eine andere Bezeichnung fiel Henning angesichts der gewaltigen Dimensionen und der prunkvollen Ausstattung nicht ein. Bruhns war ein Halbgott gewesen, der sich alles hatte leisten können, was mit Geld zu kaufen war, aber irgendjemand hatte etwas dagegen gehabt, dass Bruhns sich weiterhin wie ein solcher aufführte. Das eigentlich Schlimme war, dass eine Achtzehnjährige mit Bruhns ermordet worden war. Eine junge Frau, die er vielleicht erst kurz vor der Tat kennengelernt hatte. Eine junge Frau, die vielleicht auf eine große Karriere gehofft hatte, die Träume und Wünsche gehabt hatte und stattdessen von einer Kugel getötet worden war. Kerstin Steinbauer aus Düsseldorf, deren Angehörige noch informiert werden mussten und die nicht begreifen würden, warum es ausgerechnet ihre Tochter, Schwester, Nichte, Enkelin getroffen hatte. Familie und Freunde würden trauern und die Sinnlosigkeit ihres Todes beklagen und beweinen.

Bruhns' Tod hingegen berührte Henning weit weniger. Der Mann war kein angenehmer Zeitgenosse gewesen, kaum ein Tag war vergangen, an dem nicht über ihn berichtet worden war. Er hatte sich ein Millionenheer an Bewunderern geschaffen, aber auch zahllose Neider und Feinde. Am Ende seines Lebens stand ein inszenierter Mord, ein kaltblütiger und hinterhältig ausgeführter Mord. Was hatte Bruhns getan, dass der Mörder ihn nach seinem Tod der Lächerlichkeit preisgab und ihn wie eine Karikatur darstellte? Und warum auch Kerstin Steinbauer, die ihr Leben noch vor sich gehabt hatte? War sie nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen? Oder hatte sie zu einem perfide ausgeklügelten Plan gehört?

Henning konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung, die für eine Welt stand, zu der er sonst kaum Zutritt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in einem solchen Haus gewesen zu sein. Victoria Bruhns sah ihn fragend an und sagte schließlich: »Kommen Sie doch bitte mit ins Wohnzimmer, ich möchte meine Tochter nicht zu lange allein lassen, sie ist erst vorgestern ein Jahr alt geworden.«

Henning und Santos folgten ihr in einen Wohnbereich, der mindestens hundert Quadratmeter maß. Auch hier nur erlesenste Ausstattung, vom Boden bis zur Decke, doch nicht überladen, nicht protzig, eher schlicht gehalten, aber alles vom Feinsten.

»Das war bestimmt eine große Feier«, meinte Santos. »Nein, nur meine Eltern und meine Schwester waren hier«, antwortete Victoria Bruhns mit einem Hauch Traurigkeit in der Stimme. »Und Ihr Mann?«

»Er natürlich auch, aber er musste schon am frühen Nachmittag wieder ins Studio, obwohl er eigentlich ... Das tut nichts zur Sache. Er sollte trotzdem längst zu Hause sein.«

Sie vermied, ein zweites Mal nachzufragen, ob etwas mit ihrem Mann war, als wolle sie einer unangenehmen Antwort ausweichen. Stattdessen ging sie zu ihrer Tochter, die inmitten einer opulent eingerichteten Spiellandschaft saß und so beschäftigt war, dass sie die Beamten gar nicht wahrnahm, nur ein kurzer Blick, bevor sie sich wieder ihrem Spiel widmete. Sie hatte für ihr Alter ungewöhnlich volles, blondes Haar und braune Augen, das Abbild ihrer Mutter. Ein bildhübsches Mädchen, das irgendwann eine bildhübsche junge Dame sein würde. Wie ihre Mutter - oder wie Kerstin Steinbauer. Mach nur nicht denselben Fehler wie sie, dachte Santos.

»Warum sind Sie hier? Dazu noch an einem Sonntagnachmittag«, fragte Victoria Bruhns schließlich doch und nahm die Kleine auf den Arm. »Schau mal, Pauline, das sind Leute von der Polizei. Du wirst später hoffentlich nie etwas mit ihnen zu tun haben«, sagte sie und lächelte ihre Tochter liebevoll an. »Sie ist mein Ein und Alles, ein Leben ohne sie könnte ich mir nicht mehr vorstellen.« »Das kann ich gut verstehen, Ihr Mann ist bestimmt auch ganz stolz auf seine Tochter«, erwiderte Santos und lächelte Pauline an, die ihr Gesicht auf die Schulter ihrer Mutter legte. Sie wurde ernst: »Aber Ihr Mann ist auch der Grund, weshalb wir hier sind. Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns alle setzen würden.« »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen noch keinen Platz angeboten habe. Bitte!« Victoria Bruhns deutete auf die opulente Sitzgarnitur. Henning und Santos setzten sich auf das weiße Ledersofa, während sich die Hausherrin auf dem Sessel schräg gegenüber niederließ. Pauline saß auf ihrem Schoß, den Kopf an die Brust der Mutter gelegt.

»Was ist mit Peter? Normalerweise kommen Polizisten, wenn wieder mal irgendwelche Typen unser Haus belagern. Was ist passiert?« Nervös neigte sie den Kopf ein wenig zur Seite.

»Frau Bruhns, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann tot ist«, antwortete Santos und versuchte, so viel Mitgefühl wie möglich in ihre Stimme zu legen, gleichzeitig beobachtete sie die erste Reaktion der Ehefrau. Doch da war keine, es war, als hätte die junge Frau es zwar gehört, aber noch nicht aufgenommen. Worte, die in dem riesigen Raum verhallt waren. »Wir kommen gerade aus Ihrem Haus in Schöneberg, wo er gefunden wurde.«

Victoria Bruhns sagte nichts, ihr Gesicht war wie eine Maske, sie streichelte ihrer Tochter durch das Haar und drückte sie fest an sich, als suchte sie bei ihr Halt. Keine Tränen, kein Aufschrei, nichts. Es war eine bedrückende Stille, die sich wie ein riesiges Laken über alles gelegt hatte. Henning und Santos ließen ihr Zeit, das eben Gehörte aufzunehmen, obwohl es mit Sicherheit Tage, wenn nicht Wochen oder Monate dauern würde, bis die junge Frau diese Nachricht wirklich begriffen und verinnerlicht hatte.

Doch mit einem Mal sagte Victoria Bruhns mit vollkommen ruhiger Stimme, während sie von Santos zu Henning schaute: »Ich habe es kommen sehen. Ob Sie's glauben oder nicht, aber ich habe damit gerechnet, dass eines Tages so etwas passieren würde. Wie ist er gestorben? Ein Unfall? Oder wurde er umgebracht?« Die letzte Frage stellte sie leise und doch so, als käme für sie nichts anderes in Betracht. Keine Frage, eher eine Feststellung.

»Wie kommen Sie darauf, dass er umgebracht worden sein könnte?«

»Entschuldigen Sie, wenn ich nicht in Tränen ausbreche oder herumschreie, aber ...« Sie trug Pauline wieder zur Spielecke, flüsterte ihr etwas zu und streichelte ihr übers Haar. Sie kehrte zurück und blieb vor den Beamten stehen. Als das Kind zu weinen begann, ging sie wieder zu ihm, hob es hoch und redete beruhigend auf es ein. Dann wandte sie sich den Beamten zu. Ihre Gesichtszüge blieben entspannt, als sie sagte: »Es verging doch kaum ein Tag, an dem er keine Drohungen erhielt. Oder was glauben Sie, warum dieses Haus und das Grundstück wie eine Festung ausgestattet sind? Alles hat seinen Grund, auch dieses riesige Gefängnis hier, aus dem ich kaum noch rauskomme.«

Ohne auf die letzte Bemerkung einzugehen, antwortete Santos: »Wir wissen noch nicht genau, was sich abgespielt hat, aber wie es aussieht, wurde Ihr Mann Opfer eines Gewaltverbrechens. Wie gesagt, es tut mir leid«, betonte Santos noch einmal, und sie meinte es ernst, als sie die junge Frau betrachtete, die so gefasst und ruhig wirkte und schon auf den ersten Blick einen sympathischen Eindruck gemacht hatte.

»War er allein?«, fragte Victoria Bruhns, und es war, als kannte sie die Antwort längst. »Nein, es war jemand bei ihm«, antwortete Santos. Victoria Bruhns verzog den Mund und nickte. »Ich nehme an, eine attraktive junge Frau. Sie brauchen mich nicht mit Samthandschuhen anzufassen, denn, wie ich schon sagte, ich habe mit einer solchen Nachricht gerechnet. Peter hat sein eigenes Leben geführt, in das er niemanden gelassen hat, nicht einmal mich. Er hat zwar immer wieder betont, dass er mit mir die große Liebe gefunden habe, aber ich habe es schon lange nicht mehr geglaubt, zu oft hat er mich belogen und betrogen. Es tut mir leid, wenn ich so über ihn rede, aber das ist die Wahrheit, und ich bin bekannt dafür, mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg zu halten. Seit Paulines Geburt hat er sich kaum noch hier blicken lassen, das alles war zu viel für ihn, eine Frau, ein Kind, das seine Aufmerksamkeit fordert, der Verlust seiner Freiheit, dabei habe ich ihm nie irgendwelche Vorwürfe gemacht, wenn er mal wieder ein paar Tage weggeblieben war, ohne sich zu melden. Ich wusste manchmal tagelang nicht, wo er sich gerade aufhielt, weil er nicht einmal an sein Handy gegangen ist. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden und gar nicht mehr versucht, ihn zu erreichen.« Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn.

Pauline hatte sich mehrfach über die Augen gerieben und war innerhalb kürzester Zeit eingeschlafen. Victoria Bruhns trug sie nun vorsichtig zur Spielecke und legte sie auf die Decke, wartete noch einen Moment und kam zurück. »Wir sind schon lange kein Paar mehr gewesen, höchstens für die Medien, alles gehörte zur Show, sein ganzes Leben war eine einzige große Show. Nachdem Pauline geboren war, war er noch seltener hier als zuvor. Dann seine ständigen Affären, die Meldungen in der Presse oder im Fernsehen, wenn er mal wieder mit einer anderen Frau oder besser einem Mädchen angetroffen worden war, glauben Sie mir, all das ist nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich dachte mir, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ich habe mit ihm sogar schon über Scheidung gesprochen, weil ich das nicht mehr ausgehalten habe. Erst vor ein paar Tagen habe ich ihm gesagt, dass ich ausziehen werde.« Sie seufzte auf, nahm wieder Platz und schlug die Beine übereinander. Ein paar Tränen lösten sich und liefen ihr über die Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken ab und blickte zu Boden.

»Wie hat er darauf reagiert?«

»Wie er reagiert hat?«, fragte sie nach, als wäre sie mit einem Mal weit weg, ihr Blick ging durch die Beamten hindurch, ihre Hände krallten sich in die Sessellehnen. »Wollen Sie das wirklich wissen?« »Ja.«

Sie wandte den Blick zur Seite und antwortete: »Er hat gelacht und gemeint, das würde ich im Leben nicht wagen, und falls doch, so würde ich das bitter bereuen. Er hat gedroht, dass ich Pauline nie wiedersehen würde, er hätte das Geld und die Macht, sie mir wegzunehmen. Wie er mich dabei angesehen hat, glauben Sie mir, für einen Moment fürchtete ich, er könnte mir etwas antun. Es war das erste Mal, dass ich richtig Angst vor ihm hatte.«

»Damit ich das richtig verstehe: Er hat sich um seine Tochter nicht gekümmert, aber wenn Sie gegangen wären, hätte er sie Ihnen weggenommen?« »Sie kennen Peter nicht, der ist zu allem fähig, nun, er war zu allem fähig. Er konnte nicht lieben, aber er konnte die Gemeinheit in Person sein. Ich wäre nicht die Erste gewesen, die er zerstört hätte. Es wäre ihm weiß Gott nicht um Pauline gegangen, sondern allein darum, mich zu erniedrigen und zu zerstören. Es tut mir leid, dass er nur neunundvierzig Jahre alt geworden ist, aber letztlich wird er sich das selbst zuzuschreiben haben, denn er hat vielen Menschen sehr weh getan.«

»Hätten Sie Ihre Drohung wahr gemacht?«, wollte Santos wissen.

»Ja, ganz sicher sogar«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich hätte einen Weg gefunden, ihn zu verlassen - mit Pauline. Sie war ihm doch vollkommen gleichgültig, er hätte ein Kindermädchen engagiert und sie irgendwann auf ein Internat geschickt, damit sie ihm nicht im Weg wäre. Er hatte ja auch zu seinen fünf Kindern aus den früheren Beziehungen schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Er hat zwar den Unterhalt bezahlt, das war's aber auch schon. Und wenn er hier war, hat er sich auch nicht um Pauline gekümmert. Ich kann mich nicht erinnern, wann er sie zuletzt auf den Arm genommen hat. Das mag verbittert klingen, aber es stimmt: Wir beide bedeuteten ihm nichts. Ihm ging es immer nur ums Besitzen.« »Und wie hätten Sie es geschafft, von hier wegzukommen, wenn ich fragen darf?«

Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf Victoria Bruhns' Lippen ab: »Sagen wir es so, ich habe einiges, womit ich ihn unter Druck hätte setzen können. Aber das ist jetzt nicht mehr relevant.«

»Und was?«

»Darüber möchte ich nicht sprechen, aber glauben Sie mir, es hätte seinem Renommee sehr geschadet.« »Wusste er davon?«

»Nein, und er hat auch bestimmt nicht damit gerechnet, dass ein Dummchen wie ich fähig wäre ... Nun, das ist ja jetzt hinfällig. Aber glauben Sie mir, ich wäre niemals dazu in der Lage gewesen, ihn umzubringen, das schwöre ich Ihnen, denn Sie denken bestimmt, dass ...« »Nein, so weit sind wir noch nicht ...« »Wo waren Sie gestern Abend gegen Mitternacht?«, wurde Santos von Henning unterbrochen, den die Ehegeschichte von Victoria Bruhns im Moment nicht sonderlich interessierte. Er musterte die hübsche junge Frau mit dem ausdrucksstarken Gesicht, in dem das Hervorstechendste die großen braunen Augen und die vollen, sanft geschwungenen Lippen waren. Lisa und sie haben etwas gemeinsam, dieses Feurige, das keinen Mann kaltlässt, dachte er. Aber dieses Arschloch Bruhns hat das nicht zu schätzen gewusst.

»Auf diese Frage habe ich schon gewartet. Ich war hier, wo auch sonst? Es gibt sogar eine Zeugin, meine Schwester. Wir haben bis gegen eins telefoniert, was Sie ja leicht nachprüfen können ...« »Wo wohnt Ihre Schwester?«

»Nicht weit von hier, in Eckernförde. Sie ist meine Bezugsperson und mein großer Halt. Aber ich möchte doch eins klarstellen: Ich habe meinen Mann nicht gehasst, ich habe nur erkannt, dass er nicht der war, als den ich ihn kennengelernt habe. Also warum hätte ich ihn umbringen sollen?«

»Gründe genug haben Sie uns ja schon genannt. Wir werden Ihr Alibi überprüfen, und wenn Sie uns die Wahrheit gesagt haben, haben Sie nichts zu befürchten. Wer erbt denn das Vermögen?«

Victoria Bruhns zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Bei einer Scheidung hätte ich fünf Millionen bekommen, dafür musste ich mich verpflichten, nie in der Öffentlichkeit über unsere Ehe zu sprechen. Er wollte das so wegen schlechter Erfahrungen mit seinen ersten drei Frauen. Ich habe keine Ahnung, was mit alldem hier passiert. Das ist aber auch unwichtig, zumindest jetzt. Ich weiß nicht einmal, ob er ein Testament verfasst hat.«

»Sie haben von vielen Feinden und Drohungen gesprochen. Gab es in letzter Zeit irgendetwas Besonderes in dieser Hinsicht? Hat Ihr Mann alle Drohungen ernst genommen?«

»Nein, weder das eine noch das andere. Er glaubte wohl, unverwundbar zu sein. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber er hat von mir nichts angenommen, schon gar keine Ratschläge, ich bin ja auch nur eine kleine dumme Frau. Es stimmt schon, ich hätte seine Tochter sein können, und so kam ich mir manchmal auch vor, weil er es mich oft genug hat spüren lassen. Er hat mich behandelt wie ein kleines naives Mädchen.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Ich weiß selbst, dass ich eine dumme Kuh bin, und Sie werden wahrscheinlich denken, ich hätte Peter nur wegen seines Geldes geheiratet, aber das stimmt nicht, ich hatte mich wirklich in ihn verliebt. Er konnte unglaublich charmant sein, zumindest am Anfang. Als er mich dann besaß, zeigte er sein wahres Gesicht.«

»Nein, wir halten Sie nicht für naiv oder dumm. Aber Sie klingen nicht sonderlich traurig.« Gespannt beobachtete Henning ihre Reaktion.

Sie begegnete seinem Blick, zog die Mundwinkel nach unten, zuckte die Achseln und meinte: »Das kommt vielleicht noch, aber Sie haben recht, im Moment bin ich nicht traurig, weil die Nachricht nicht so überraschend kam und ich mich in den letzten anderthalb Jahren innerlich so weit von ihm entfernt habe, dass es für mich kein Zurück mehr gab. Ich dachte nur noch daran, wie ich hier am schnellsten und vor allem heil rauskomme. Aber ich glaube, ich werde auch in Zukunft nicht trauern, dazu hat er mich zu oft verletzt.« »War er gewalttätig Ihnen gegenüber?« Victoria Bruhns ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie antwortete: »Ja, hin und wieder ist ihm die Hand ausgerutscht. Manchmal war da auch mehr. Er war unberechenbar, aber das wussten nur jene in seinem direkten Umfeld. Im Fernsehen hat er die Massen belustigt, er konnte auch einen auf ernsthaft oder charmant machen, letztlich war er der zerrissenste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Am Ende konnte ich ihn nicht mehr lieben, da war Leere und leider auch zunehmend Verachtung und Hass ...«

»Eben haben Sie aber noch behauptet, ihn nicht gehasst zu haben«, bemerkte Santos kritisch. »Ja, das stimmt schon, aber es gab Momente, da habe ich ihn gehasst, zum Beispiel wenn er sich nicht unter Kontrolle hatte, rumschrie oder gewalttätig wurde. Ich weiß, Sie werden jetzt denken, wer hasst, ist auch bereit zu töten, aber ich habe mit seinem Tod nichts zu tun. Darf ich fragen, wie er getötet wurde?« »Er wurde erschossen.«

»Und die Dame, mit der er sich vergnügt hat, wie alt ist die?«, fragte sie in einem Tonfall, der die Antwort erahnen ließ.

»Sie war gerade achtzehn geworden.« Sie runzelte die Stirn. »Achtzehn! Mein Gott, mit achtzehn hatte ich noch nicht mal meinen ersten festen Freund. In dem Alter war ich tatsächlich noch naiv und unbedarft. Dann lernte ich Peter vor nicht einmal vier Jahren bei einem Casting kennen ...« »Was für ein Casting?«, wollte Santos wissen. »Es war ein neues, aber nicht sonderlich erfolgreiches Format. Es wurden Schauspieler für eine Daily Soap gesucht, und Peter war einer der Juroren, obwohl er von der Schauspielerei nicht sonderlich viel Ahnung hatte. Jedenfalls, wir kamen ins Gespräch, und von da an passierte alles wie von allein. Ehe ich mich versah, waren wir verheiratet. Es war wie im Paradies, er hat mich mit Geschenken überhäuft, wir haben Reisen unternommen, ich wurde mit Pauline schwanger, und ...«, sie atmete tief durch und sah zu ihrer schlafenden Tochter, »... er hatte eine Geliebte nach der anderen. Mich hat er schon, kurz nachdem ich schwanger geworden war, nicht mehr angerührt. Aber er wollte mich auch nicht einfach so gehen lassen, sein Renommee, Sie verstehen schon. Ich war seine vierte Frau, und er wollte in der Öffentlichkeit endlich als treuer Ehemann dastehen. Und er war ein Meister der Manipulation, er hatte nämlich alles drauf, was man in diesem Geschäft braucht, er konnte charmant, höflich und freundlich sein, aber auch zynisch, menschenverachtend, gewalttätig. Es kam immer drauf an, mit wem er es zu tun hatte, mit wem er sich gut stellen musste und wen er niedermachen durfte.« »Er war Ihr erster Mann?«

»Ja, leider.« Sie seufzte. »Was glauben Sie, wieso ich mir seine Eskapaden so lange angesehen habe? Meine Mutter hat gesagt, heirate nie den Ersten, auch nicht, wenn er Geld hat wie Heu. Sie ist eine sehr kluge Frau, obwohl sie erzkonservativ erzogen wurde und deswegen den gleichen Fehler gemacht hat. Aber sie hatte recht. Ich kann jeder Frau nur das raten, was meine Mutter mir geraten hat.«

»Was hat er gestern Abend gemacht?« »Wissen Sie das noch gar nicht?«, fragte Victoria Bruhns überrascht. »Er war auf Sendung, eine Castingshow. Er ist Juror und ...«

»Doch, wir wissen es bereits, wir wollten es nur von Ihnen hören. Wo wurde die Sendung aufgezeichnet?« »Es ist eine Liveshow, die aus Hamburg gesendet wird. Erst in den letzten drei Sendungen dürfen die Zuschauer dann abstimmen, welchen Kandidaten sie weiterkommen lassen, welcher gehen muss und wer am Ende gewinnt. Im Prinzip ist es ein ähnliches Format wie DSDS ... Peter hat immer wieder von anderen abgekupfert, weil ihm selbst nichts Besseres einfiel. Dem Sender war's egal, ein paar Änderungen, und schon war es Peters Show. Ich hab's gestern aber nicht gesehen, ehrlich gesagt habe ich noch keine einzige Folge dieser Staffel gesehen, deshalb kann ich auch nicht mitreden. Er hat sein Leben geführt, ich meines. Noch vor drei Jahren, als er mit dieser Show angefangen hat, habe ich mich jeden Samstag darauf gefreut, aber es ist eben nur Show, sogar eine ziemlich billige. Ich habe mich entschieden, meine Zeit sinnvoller zu gestalten.«

»Ich kenne die Show auch nicht«, sagte Santos. »Sie haben nichts verpasst, glauben Sie mir.« »Und wie lange dauert die Sendung in der Regel?«, fragte Santos, die Hinrichsens Aussage von Victoria Bruhns bestätigt haben wollte. Doch die schüttelte den Kopf. »Nicht einmal das kann ich Ihnen beantworten, ich müsste in der Zeitung nachsehen. Am besten wäre es, wenn Sie sich im Sender erkundigen würden.« »Das machen wir. Nach der Show ist er dann offenbar direkt nach Schönberg gefahren, was bedeutet, dass ...« »Nein, nein, das Auto hat er in der Regel nur hier in Kiel und der direkten Umgebung benutzt. Für alles, was weiter als fünfzig oder sechzig Kilometer war, hat er den Helikopter oder den Learjet genommen. Er hasste es, Zeit zu vergeuden, und er liebte es, anzugeben.« »Hat er die Maschinen selbst geflogen?« »Er hat zwar einen Pilotenschein, aber er hat für beide Maschinen auch einen Piloten.«

»Hat er Ihnen gesagt, was er gestern nach der Show vorhatte?«

»Nein. Über so was hat er mit mir schon lange nicht mehr gesprochen. Ich habe ihn auch nicht gefragt. Er kam und ging, wie er wollte.«

»Und das Personal? Sie haben doch sicher Personal, oder?«

»Natürlich beschäftigen wir Personal, aber aus denen werden Sie nichts rauskriegen, die schweigen wie ein Grab, jeder von ihnen musste eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben, die auch nach einer möglichen Entlassung gültig bleibt. Peter ist da knallhart. Außerdem weiß keiner von denen, was zwischen ihm und mir wirklich abgelaufen ist. Die wesentlichen Dinge spielten sich immer hinter verschlossenen Türen ab. Glauben Sie mir, es ...« Sie stockte, ihr Blick ging ins Leere. »Nein, ich möchte nicht darüber sprechen, nicht jetzt. Ein andermal vielleicht, jetzt ist nicht der passende Zeitpunkt. Außerdem hat es nichts mit dem Tod meines Mannes zu tun.« »Das klingt nicht schön«, bemerkte Santos. »Aber die Verschwiegenheitserklärung, von der Sie eben gesprochen haben, hat mit dem Tod Ihres Mannes ihre Gültigkeit verloren. Wenn es sein muss, laden wir jeden Einzelnen aufs Präsidium vor. Wir müssen wissen, wie Ihr Mann privat war, nicht nur Ihnen gegenüber, sondern auch gegenüber den Menschen, die ihn umgaben. Dazu zählt nun mal das Personal.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Was werden Sie jetzt tun?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird, im Moment weiß ich überhaupt nichts.«

»Hätten Sie wenigstens ein paar Namen von Personen, die besonders schlecht auf Ihren Mann zu sprechen waren?«

»Ja, da gibt es einige. Ich schreib Ihnen die wichtigsten auf.«

Kurz darauf überreichte sie Santos einen Zettel, auf dem sieben Namen vermerkt waren. Santos überflog die Namen und nickte, weil sie jeden davon kannte. Nicht persönlich, aber sie hatte von ihnen gehört und gelesen und mindestens zwei von ihnen schon häufig im Fernsehen gesehen.

»Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an«, sagte Santos und reichte Victoria Bruhns ihre Karte. »Tag und Nacht.«

»Natürlich. Bitte glauben Sie mir, ich habe mit dem Tod meines Mannes nichts zu tun.«

»Wir werden Ihre Angaben überprüfen und uns wieder bei Ihnen melden. Passen Sie gut auf sich auf.« »Was soll mir in diesem Hochsicherheitstrakt schon passieren?«

Victoria Bruhns begleitete die Beamten bis zum Tor, sah ihnen nach, wie sie ins Auto stiegen, blieb noch einen Moment stehen und rannte, nachdem Henning und Santos losgefahren waren, zurück ins Haus. Im Wohnzimmer lehnte sie sich gegen die Tür, ihr Herz schlug wie wild, und mit einem Mal brachen die Tränen aus ihr hervor, als brächen Dämme. Sie sank zu Boden und weinte wie niemals zuvor. Sie wusste nicht einmal, warum sie weinte.

 

Eisige Naehe
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